Bringen Sie Ihre Botschaft "unters Volk"

27.05.2020

Wie viel Jesus steckt im Grundgesetz?

Eine recht banale und zunächst mal sehr abstrakte Frage, schließlich liegt allein die zeitliche Trennung des Wanderpredigers zur Geburtsstunde unserer Verfassung bei nahezu 2000 Jahren.
Gibt es eine mehr als zufällige Verbindung zwischen jahrtausendealten biblischen Werten und dem ethischen Konstrukt unseres Grundgesetzes?
Ein kleiner Spaziergang durch den Wertekanon der Bibel und des Grundgestzes:

In Artikel 1 des Grundgesetzes erfahren wir vom höchsten Wert unserer Verfassung: “Die Würde des Menschen ist unantastbar”- Genau genommen strahlt dieser Hauptwert in alle Winkel der Grundrechte, sowie der staatlichen Verfassungsorgane. Die Würde wird im Grundgesetz nicht näher erklärt, jedoch vorausgesetzt. Daher müssen wir hier die Geschichte bemühen, um diesen Wert näher zu begreifen: Ohne Ansehen der Person, hat jeder Mensch einen unveräußerlichen Wert, den er selbst nicht mehren und auch niemandem rauben kann.
Dieser Wert ist keine Erfindung des Grundgesetzes, auch nicht der Aufklärung, der Reformation oder des griechischen und römischen
Reiches, auch wenn wir ihn in mehr oder weniger deutlichen Ansätzen hier überall finden.

Der historische Jesus wandte sich vor 2000 an seine gemischte Hörerschaft und sagte einmal: „Was Ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Matthäus 25,40). Es ist eine Einladung, Menschen ohne Ansehen der Person, der Religion, des sozialen Status oder der Herkunft bedingungslos zu helfen und dabei stets vor Augen zu haben, dass wir dem lebendigen Gott dadurch eine Freude machen. Was wir dem Nächsten Gutes tun, das tun wir Gott. Dieser Gedanke hat eine unbändige Kraft und inspirierte tausende von Männern und Frauen im Laufe der Geschichte zu großen, diakonischen, caritativen und missionarischen Taten.

Ähnlich edel strahlt die Würde des Menschen auch durch ein anderes Jesuswort. Gefragt nach dem wichtigsten Gebot, gab Jesus zur Antwort:  “Dies ist das vornehmste und größte Gebot. Das andere aber ist ihm gleich; Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“  (Matthäus 22,37 siehe auch im AT, Levitikus 19,18) Dem menschlichen Hang nach Beziehungsbewertungen wird hier ein Riegel vorgeschoben. Es ist demnach verkehrt, ein Eremitendasein zu führen, in die Einsamkeit zu flüchten und vor den Nöten des anderen die Augen zu verschließen. Ebenso falsch ist es, sein Seelenheil im reinen Humanismus (im Sinne eines reinen Menschendienstes) zu sehen. Der Mensch lebt aus der Verantwortung vor einem Gott der Geschichte, ebenso wie aus seiner Verantwortung gegenüber dem Nächsten. Auf genau diesen Leitgedanken beruft sich auch die Präambel unseres Grundgesetzes: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und dem Menschen“. Hier wird unser gesamtes Volk in die Pflicht genommen und beruft sich damit auf einen uralten biblischen Wert.

Jesus wuchs in einer jüdischen Familie auf, tief geprägt von den Werten des Alten Testamentes, welches aus dem hebräischen übersetzt
eigentlich „das erste Testament“ heißt und darauf verweist, dass hier bereits alle Werte verankert sind, die später durch das Christentum durch die Jahrhunderte auf der ganzen Welt verbreiten werden sollten und auch in unserer Verfassung Eingang fanden. Zugleich befreien diese jüdisch- christlichen Werte von jeglichen Glaubenszwängen und garantieren die Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 4). Jesus selbst trennte bereits die weltliche Ordnung von der göttlichen Ordnung. U.a. wird dies deutlich, als ihm die Pharisäer und Schriftgelehrten danach fragten, ob es recht wäre, dem Kaiser Steuern zu zahlen (Matth.22). In einer politisch aufgeladenen Region, in der die Römer eine von Juden verhasste Besatzungsmacht in Israel waren, eine lebensgefährliche Fangfrage: Hätte Jesus die Steuern bejaht, wäre er als Kollaborateur von den Juden verklagt worden. Hätte er die römische Steuerberechtigung verneint, wäre er von den Römern als Aufrührer vor Gericht gestellt worden. Jesus antwortete mit dem, was gleichzeitig Wesenskern unserer Verfassung ist: „Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, aber gebt Gott, was Gott gehört“ (Matthäus 22,21). Mit anderen Worten: Kirche und Staat sind getrennt und konkurrieren nicht miteinander. Nebenbei bemerkt: Auch das Prinzip der Gewaltenteilung taucht in der Bibel an verschiedenen Stellen auf: So soll das Volk Israel keinen König haben, sondern durch Richter regiert werden (vgl. 2.Samuel, Richter, Könige). Auch der sogenannte Jethro-Effekt (Exodus 18,18) greift das Prinzip der Machtverteilung auf.

In Markus 10, 17-27 kommt ein reicher Mann zu Jesus. Im Gespräch wird deutlich, dass dieser bereits viel Gutes getan hat und Jesus gerne nachfolgen möchte. Jesus führt ihn an seine Wunde Stelle und fordert von ihm, all sein Gut zu verkaufen und das Geld den Armen zu geben. Dazu war der reiche Mann nicht bereit. Theologisch ausgedrückt war sein Reichtum sein Gott. Grundgesetzlich gesehen finden wir hier bereits den Wert aus Artikel 14: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Damals wie heute gilt daher: Reichsein ist kein Selbstzweck. Viel mehr haben Vermögende eine besondere Verantwortung, Ihren Reichtum mit anderen zu teilen.

„…denn ihr seid auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen“ (2.Mose 22,20) So galt bereits im Alten Testament eine Erinnerungsverpflichtung an
die entbehrungsreiche Zeit des Auszugs aus der Sklaverei. Aus dieser Erinnerung heraus begründet sich heutiges Handeln zum Wohle der Notleidenden. Für die Fremden galt zu alttestamentlichen Zeiten das gleiche Gesetz wie für die Israeliten: Sie hatten weitgehend dieselben Rechte und Pflichten, sie konnten und sollten ebenso den Sabbat halten, und auch im kultischen Bereich waren sie beinahe gleichberechtigt. Die Israeliten waren verpflichtet, Ausländer, die verarmt waren, ebenso zu unterstützen wie ihre Landsleute. Es ist überraschend, wie oft Ausländer erwähnt werden, während sie z.B. in mesopotamischen Gesetzessammlungen kein Thema sind. Auch sollte keine Nachlese auf den Feldern erfolgen, damit sich u.a. verarmte Ausländer selbst versorgen konnten.
Jesus radikalisiert diese mosaische Verpflichtung der Fremdenfürsorge in Lukas Kapitel 10 mit dem Bild eines heidnischen Fremden, der anders als die vermeintlichen frommen Juden seiner Zeit, Barmherzigkeit an einem Schwerverletzten übte. Für die frommen Ohren seiner Zeit eine unglaubliche Provokation!

Dem Erinnern wird in der Bibel jeweils eine demütige und korrigierende Wirkung zugeschrieben. Im Rahmen der Ausstellung erleben wir das
ganz praktisch: Vor der Flüchtlingsdarstellung im Diorama erinnern wir an die Fluchterfahrung von Millionen Menschen. Scheinbar endlose Flüchtlingsströme, die bereits vor Ende des Krieges einsetzten spannen den Bogen in die heutige Zeit: Auch wir (bzw. viele unserer Vorfahren) waren vor nunmehr 75 Jahren Flüchtlinge, Zeitzeugen können noch aus dieser Zeit berichten. Und heute? Heute gehören wir zu einem der reichsten und sichersten Länder der Welt- was sich auch durch die Coronakrise nicht ändern wird. Damit tragen wir in besonderer Weise eine Verantwortung, das Leid und Elend anderer mindern. In Artikel 16a schlägt sich diese Selbstverpflichtung im allgemeinen Asylrecht nieder, was übrigens nicht heißt, dass gemäß dem Grundgesetz keinerlei Anforderungen an Asylanten gerichtet werden. Artikel 18 definiert, dass auch das Asylrecht verwirkt werden kann, wenn Asylanten ihre Grundrechte missbrauchen, um die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ zu bekämpfen. Wer beim Volk Israel als Fremder Zuflucht fand, musste sich an das mosaische Gesetz halten- in Deutschland kann gemäß Grundgesetz nur Asyl bekommen bzw. behalten, wer unsere Verfassung bedingungslos akzeptiert! 

Diese Beispiele zeigen auf, das es sich lohnt, die Bibel als Humusboden zu sehen, auf dem viele der Werte gewachsen sind, die auch in unserem Grundgesetz verankert wurden. Eine Gesellschaft, die sich seit Jahrzehnten schleichend säkularisiert und mittlerweile erschreckend oft ein Grundrecht auf Beleidigungen des jüdisch-christlichen Glaubens ableitet, könnte so neu entdecken, dass der jüdisch- christliche Glaube in großen Teilen die Wirkungsgeschichte unseres Grundgesetzes darstellt.

Tim Behrensmeier - 16:59:15 @ Grundgesetz im Gespräch