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10.04.2020

Die Antastbarkeit der Menschenwürde: TRIAGE

Praktisch über Nacht wurde unsere Gesellschaft in den letzten Monaten an eine gespenstische Frage herangeführt. Anfang des Jahres tauchte sie noch schemenhaft am Horizont auf, als das chinesische Gesundheitssystem an seine Grenzen stieß und innerhalb von wenigen Tagen zusätzliche Krankenhäuser errichtete. Wenig später sahen sich unsere europäischen Nachbarn in Italien direkt mit der Frage konfrontiert, die seither wie ein grauer Schleier über unserer Gesellschaft lastet. Noch vor wenigen Wochen verwies der Gesundheitsminister Jens Spahn darauf, dass wir in Deutschland bestens auf eine Pandemie vorbereitet seien. Die unterschätzte Seuche, der weltweite Wirtschafts-shut-down und der weltweit tobende Beschaffungskrieg um Schutzmasken und Beatmungsgeräte haben die trügerische Sicherheit längst zerschlagen und lassen die Frage immer lauter werden, nach welchen Kriterien zu viele infizierte Menschen mit schwerem Verlauf auf die möglicherweise zu knappen Intensivbetten sortiert werden können. Die einen zum Leben, die anderen zum Sterben. 

Diese Sortierung (franz. “Triage”) spiegelt in besonderer Weise eine Urangst der deutschen Nachkriegsgeschichte wieder. Nie wieder soll im Herzen Europas menschliches Leben bewertet werden! Nie wieder sollen Menschen in Deutschland aufgrund Ihrer Abstammung, ihres Alters, ihrer Gesundheit, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer Hautfarbe oder ihrer Religion aussortiert werden.Was in der Zeit des Nationalsozialismus blutrünstige und idealisierte Doktrin einer ganzen Gesellschaft war und sich auf fatale Weise auf den Rampen der Konzentrationslager ereignete, ist heute ganz anders eine überaus schmerzhafte Frage, die einer tiefsitzenden Angst Ausdruck verleiht und die wir am liebsten verdrängen würden, wenn es denn ginge. 

Der Ethikrat gibt für die Triage Weisungen an die Ärzte heraus, gleichzeitig wird beteuert, das alles menschenmögliche unternommen wird, um genau dieses Szenario zu vermeiden. Leider fehlen diesem wichtigen und akademisch hochkarätigem 26-köpfigem Gremium aus meiner Sicht ein paar wichtige Repräsentanten, z.B. aus der Pflege, Ordnungskräfte (z.B. Polizei und Feuerwehr), der Pädagogik sowie dem islamischen und freikirchlichen Spektrum, so dass ich die Repräsentanz einer gesamtgesellschaftlichen Ethik zur Triage hier nur teilweise erkennen kann. 

Der Staat kann bezüglich einer möglichen Triage keine Verantwortung übernehmen und hat sich unlängst hinter den Artikel 1 unseres Grundgesetzes zurückgezogen: “Die Würde des Menschen ist unantastbar, sie zu acht und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt”. Dieses oberste Leitmotiv unserer Verfassung darf auch in dieser Situation nicht von der staatlichen Gewalt aufgeweicht und relativiert werden. Zugleich könnte sich das medizinische Personal in dieser Frage allein gelassen fühlen. Die Triage ist zudem ein Dilemma- sie stellt uns vor eine unlösbare Aufgabe: Seit Kriegsende hat sich unsere Gesellschaft der Lebens-Rettung und Erhaltung verschrieben. Der Sozialgedanke hat eine nahezu einmalige Tiefenwirkung in unserer Gesellschaft. Fast nirgends auf der Welt ist die Hilfe und Versorgung für notleidende und kranke Menschen so umfangreich und zugänglich, wie in Deutschland. Auf einmal stellt ein Virus alle ehernen Leitbilder bis hin zum Artikel 1 des Grundgesetzes in Frage: Menschliches Leben darf nicht bewertet werden- nicht aus weltanschaulicher, ökologischer, oder medizinischer Sicht. Und doch müssen wir ggf. menschliches Leben zumindest medizinisch bewerten- und zu diesem offenen unausweichlichen Verfassungsbruch stehen. Aber warum muss an dieser Stelle primär eine medizinische Bewertung nach den besten Heiliungschancen erfolgen? An dieser Stelle haben die älteren Menschen bereits verloren: Die Heilungschancen eines 75 Jährigen dürften in der Regel weitaus geringer sein, als die eines 30 jährigen. Leider hat der Ethikrat bisher ein wichtiges Entscheidungskriterium ausgeschlossen: Das der Gerechtigkeit und der gesellschaftlichen Solidarität: Hat ein junger Mensch, der bewusst und aktenkundig gegen die Ausgangsbeschränkungen verstößt, sich infiziert und damit auch andere gefährdet, im Triagefall das gleiche Überlebensrecht, wie ein an Covid 19 erkrankter älterer Mensch, der sich an geltende Beschränkungen und Hygienevorschriften gehalten hat aber eine medizinisch schlechterer Ausgangslage aufweist? Es wäre wünschenswert, wenn auch die gesellschaftliche Solidarität ein Wert wäre, der im Ernstfall über Leben und Tod entscheidet. Das löst nicht das Problem des Verfassungsbruchs- könnte aber zu einem erhöhten Verantwortungsbewusstsein in der Bevölkerung führen und das Gerechtigkeitsempfinden stärken. 

Wer die Triage für eine aktuelle, neue ethische Herausforderung hält, übersieht dabei, dass wir als Gesellschaft seit vielen Jahren kräftig und millionenfach Menschen aussortieren, indem wir ihnen bereits im Mutterleib das Lebensrecht verwehren. Die mögliche Corona Triage betrifft nicht die ungeborenen Menschen, sondern ggf. jeden von uns- und hält uns auf dramatische Weise den Spiegel vor. Traurig aber wahr: Neben allen Errungenschaften der sozialen Idee haben wir als Gesellschaft eine lange, fatale und heimliche Übung darin, menschliches Leben zu bewerten und zu töten - obwohl dies lt. Artikel 1 unseres Grundgesetzes absolut verboten ist (siehe Urteil vom Verfassungsgericht 2BvF 2/90). In beinahe jeder Abtreibungsdiskussion werden die Persönlichkeitsrechte der Mutter gegen das Lebensrecht des Kindes ausgespielt obwohl auch das vom Grundgesetz verboten wird (vgl. Grundrechtskollision).

Mögen diese grauenvollen Tage bald vorüber sein. Möge die Corona - Triage in unseren Breiten nur ein theoretisches Gedankenmodell bleiben, dass uns die Fehlbarkeit menschlicher Entscheidungen vor Augen führt. Möge diese Krise dazu führen, dass auch die Menschenwürde im Mutterleib nach der Coronakrise erkannt, geachtet und geschützt wird. Möge diese Welt und unsere Gesellschaft nach Corona eine bessere sein. 

Tim Behrensmeier - 20:06:48 @ Grundgesetz im Gespräch