Bringen Sie Ihre Botschaft "unters Volk"

21.04.2020

“Öffnungsdiskussionsorgien”- vom Machtwort der Krise

Was für ein Wort für unsere doch eher bodenständige und auf Mäßigung ausgerichtete Kanzlerin bei einer Schaltkonferenz mit dem CDU –Präsidium. Sie gab damit ihrer Unzufriedenheit Ausdruck, dass die aktuellen Lockerungen zu weitreichenden Diskussionen weiterer Aufhebungen in den Ländern geführt habe. Ein für Frau Merkel untypisches Wort, das emotionalisiert, herausfordert, anklagt und pointiert auf einen Missstand hinweist, den eine freiheitlich demokratische, beizeiten reichlich selbstverliebte Gesellschaft unbedingt einmal hören muss.

Wir erleben dieser Tage ein in Teilen jammerndes Volk, dass beständig die Grundrechte in Gefahr sieht und nicht erkennt, dass es eben die
Grundrechte sind, die durch diese Maßnahmen nachhaltig erhalten werden sollen. Es gilt, Schaden von unserem Land abzuwehren und eines Tages zu einem Alltag zu finden, von dem noch niemand sagen kann, wie dieser genau aussieht. Aber genau für diesen Tag X braucht es die Verlässlichkeit unserer Verfassung.

Unvermindert sind jedoch jene Stimmen, die meinen, auch in dieser Zeit sticheln, anklagen, fordern und demonstrieren zu müßen- mitunter
auch gegen geltendes Recht und die entsprechenden Schutzmaßnahmen. Dabei ereilt uns immer wieder ein skurriles Bild bei den mehr oder weniger erklagten Demonstrationen: Menschen versammeln sich inmitten von weitgehend leeren Innenstädten zu Demonstrationen- die Adressaten, also die Öffentlichkeit, ziehen es jedoch vor, völlig freiwillig der Demo fern zu bleiben. Eingeforderte Grundrechte sind bekanntlich nur so lange legitim, wie andere in Ihren Rechten nicht beschnitten werden. Und genau hier wird die immense Gefahr deutlich, auf die wir dieser Tage zusteuern und eine erneute Verbreitung des Virus zu riskieren. 

Erwarten wir als Gesellschaft zu Recht von unseren Politikern, dass sie sich im politischen Geschehen an der Gesellschaft orientieren, können wir dieser Tage auch mal in die andere Richtung fragen: Weshalb lernen wir nicht von Politikern beinahe aller Parteien, die ihre sonstigen Grabenkämpfe und Machtphantasien momentan in den Hintergrund stellen, um in großer Einheit bedacht um die Zukunft unseres Landes zu kämpfen?
Wandeln wir uns denn sofort in einen Polizeistaat oder eine Diktatur, nur weil auch wir die gesellschaftlichen Konflikte mal für ein paar Monate zur Seite zu legen, um gemeinsam bestmöglich durch die Krise zu kommen?

Erreichen wir erst einmal italienische oder amerikanische Verhältnisse schwinden als erstes die Grundrechte:
Menschen verkriechen sich in ihren Wohnungen, während die Leichenkonvois an ihren Türen vorbei fahren, um die örtlichen Krematorien zu
entlasten (Lombardei). Die Triage (franz. Sortierung) entscheidet angesichts der knappen Beatmungsplätze über Leben und Tod (Bergamo-Region und Elsaß). In den Städten werden Leichen in Kühllastern gestapelt (New-York), die Menschen hamstern dauerhaft und  horten Waffen Zuhause, während die Corona-Fallzahlen exhobitant in die Höhe schnellen (USA). Und wir reden hier nur von Industrienationen, nicht einmal von den grauenhaften Zuständen in den Schwellen- und Entwicklungsländern. Hier wütet der der Virus bereits, mangels Testkapazitäten, eher im Verborgenen. Anarchie, Egoismus, Hoffnungslosigkeit, Plünderungen und Bürgerkriege brauen sich dieser Tage in verschiedenen Winkeln der Welt zusammen und gefährden zunehmend Demokratien in der westlichen Welt.
Ausnahmslos alle kritischen Situationen sind entstanden, weil das Virus anfangs belächelt oder ignoriert wurde und weil der Shut-down zu spät veranlasst wurde.

Diese weltweite Lage stellt nunmehr das Fundament dar, auf dem Diskussionen um eine Öffnung verschiedenster Geschäfte und Einrichtungen zu führen sind. In Deutschland ist die Situation (noch) anders als oben beschrieben. Aber auch hier gibt es nach den anfänglichen Erfolgen bei der Eindämmung des Virus erste Brüche und Diskussionen in die völlig falsche Richtung. Der Disput um die 800 Quadratmeter Ladenfläche verkommt zur Beliebigkeit: Immer mehr Ausnahmen machen die Regelung zugrunde, nach der vor allem die Innenstädte nicht überbelebt werden sollen. Der Virologe Christian Drosten sorgt sich, dass die Lockerungsmaßnahmen zu schnell erfolgen, die Innenstädte und Einkaufszentren sich zu sehr füllen und schnell neue Infektionsketten entstehen können. Er meint weiter: “Wir verspielen geraden den Vorsprung, den wir bereits erreicht haben.” 

Liebe Händler, wenn Eure Kunden sterben, weil die Wirtschaft zu schnell wieder hochfährt, verliert Ihr nicht nur den Umsatz einiger Wochen
sondern alles. Dann wächst auch die Wahrscheinlichkeit, dass unsere Gesellschaft ihren Wertekanon einbüßt und über kurz oder lang wären so alle Grundrechte eingeschränkt- für immer. So wie wir nach wie vor FÜREINANDER zuhause bleiben sollten, solltet Ihr Eure nicht systemrelevanten Geschäfte nicht öffnen. 

Dem Aufschrei nach Gerechtigkeit der Ladenöffnungen ist zudem entgegen zu halten:
Niemand ist in Deutschland vom Hungertod bedroht, weil sein Geschäft mal ein paar Monate geschlossen ist. Die Hilfsprogramme in Deutschland sind fast bespiellos. Anders als in vielen anderen Ländern können Fixkosten weitgehend runtergefahren werden: Mitarbeiter werden in Kurzarbeit geschickt, Mieten können ausgesetzt werden. Es handelt sich bei den staatlichen Hilfen um ein Notprogramm, nicht um ein Konjunkturprogramm!
Das schreibt jemand, der wie viele in unserem Land vor dem Aus seiner Geschäftsidee als Soloselbstständiger steht und nicht weiß, wie es
beruflich weiter gehen wird. Aber es gab sie auch, die fetten Jahre, in denen wir davon ausgehen konnten, von dem Werk unserer Hände gut leben können. Jetzt kommen magere Zeiten und die Frage, weshalb vielen Betrieben nach kurzer Zeitdie finanzielle Überbrückungspuste ausgeht- Ein Schelm, wer nicht in dem ein oder anderen Fall schlechtes Wirtschaften dahinter vermutet… Oft wird auch übersehen, dass die Lebenshaltungskosten in der Krise bei den wohl meisten Menschen massiv gesunken sind. Bei uns persönlich haben sich diese Kosten um ca. 40% fast halbiert, der Konsum ist auf ein Minimum zurückgegangen. Es ist erstaunlich, was man alles nicht unbedingt braucht und dennoch gut leben kann- halt etwas improvisierter und anders als zuvor.

Als großer Antreiber der Öffnungsdiskussion hat sich unlängst der NRW Ministerpräsident Armin Laschet positioniert. Er verwies darauf, in
seinen Regierungsentscheidungen nicht auf Epidemiologen und Virologen zu hören. Das sagt sich nur solange leicht, wie unser Gesundheitssystem nicht überlastet wird und wir keine italienischen oder gar amerikanischen Verhältnisse haben. Laschets jüngste Lockerungsvorstöße sind daher nicht nur als Kanzlerwahlkampfgeklimper höchst bedenklich.

Wer das Hochfahren der Wirtschaft aktuell fordert, fordert im Grunde ein “Weiter so”. Damit rauben wir uns jegliche Lerneffekte und Korrekturmöglichkeiten, die aus der Krise hervorgehen.  
Ja, es wird viele Arbeitsplätze nicht mehr brauchen, wenn unsere Gesellschaft aus der Pandemie lernt: Weniger Geschäftsreisen und weniger
Tourismus bedeuten weniger Flugaufkommen, Hotels und Gastronomie.
Die Automobilindustrie hat bereits kurz vor der Krise die Notbremse gezogen und steigt zunehmend auf Elektrobetrieb um. Ich vermute, dass
dieser Trend durch die Pandemie noch beschleunigt wird. Benzindurstige SUV´s für Jedermann wirken in der Krise jedenfalls noch dekadenter als davor.
Ist es so schlimm, dass Casinos und Wettbüros schließen mussten? Ist es wirklich ein untragbarer Verlust für urbanes Leben, wenn die
Rotlichtmeilen mitsamt Ihrem Menschenhandel nicht mehr florieren und pro Nacht nicht mehr eine Million Freier anlocken?

Weshalb halten wir es nicht aus, mal von einem auf den anderen Tagen zu leben? Leben wir immer noch im Rausch der Machbarkeitsphantasien und der Illusion, so weiter machen zu können, wie zuvor?

Hier scheint mir der eigentliche Bruch mit unserer Verfassung zu liegen. Denn wer mit einer „weiter so“ Haltung fordert, die Wirtschaft wieder hoch zu fahren und sich nach seinem alten Leben sehnt, geht buchstäblich über Leichen, weil er diese billigend in Kauf nimmt, ist unsolidarisch mit seinem Nächsten, schadet nachhaltig der Wirtschaft und gefährdet die teuer erkauften Grundrechte unserer Verfassung. 
Der von der Kanzlerin benutzt Begriff der „Orgie“ sattelt noch drauf und demaskiert manche Verfechter der möglichst baldigen Öffnung als das, was sie sind: Zügellos, haltlos, (Konsum-) Suchtorientiert. Maß und Mitte sind hingegen nach wie vor das Gebot der Stunde.

Was wir jetzt brauchen sind keine „Öffnungsdiskussionsorgien“ - sondern engagierter Austausch über die Gesellschaft, in der wir nach der Krise leben wollen.

Tim Behrensmeier - 14:59:46 @ Grundgesetz im Gespräch