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16.04.2020

Die neue Welt: Grundgesetz als Konjunkturprogramm?

Eine ganze Gesellschaft blickte gespannt auf den Austausch unserer Kanzlerin mit den 16 Ministerpräsidenten am 15.4.2020 und den vorsichtigen Lockerungen in kleinen Bereichen des Alltags. Zugleich überschlagen sich Zukunftsforscher mit mehr oder weniger düsteren Szenarien, wie unser Leben in den kommenden Monaten, wenn nicht sogar Jahren aussehen wird.

Als Gesellschaft stehen wir vor einer Zeitenwende und der Frage: Inwiefern wird das Grundgesetz noch normative Kraft unserer Gesellschaft
sein? Hat unsere Verfassung lediglich einen bewahrenden Charakter oder kann sie sogar als Herzmassage einer am Boden liegenden Volkswirtschaft und Gesellschaft verstanden werden. In einer Zeit, in der beinahe alle Menschen aus ihrem bisherigen Alltag gerissen wurden und mitunter feststellen, wie ein reduziertes Leben aussehen kann, bieten sich faszinierende Möglichkeiten der Neugestaltung. Plötzlich ändert sich alles- vieles läuft nun anders, aber es funktioniert. Hier nun ein 8 – Punkte Plädoyer für die konjunkturelle Kraft unserer Verfassung.

1.) Der Förderalismus (Art. 20-37)
Das vielgescholtene Modell des Förderalismus erfährt dieser Tage eine Renaissance. Vor über 70 Jahren als unverzichtbares Korrektiv der
Machtverteilung von den westlichen alliierten Siegermächten verordnet, hilft es dieser Tage als Brennglas individueller Entscheidungen, die im Kontext des großen Ganzen stehen: Bundesländer wie Bayern, Saarland, Sachsen, Schleswig - Holstein oder Mecklenburg Vorpommern gehen in Details der Ausgangsbeschränkung Sonderwege, während sie sich fortwährend mit dem Bund abstimmen. Das funktioniert hervorragend und ermöglicht eine individuelle Betrachtung der von der Pandemie unterschiedlich betroffenen Länder, die allein auf Bundesebene nicht möglich wäre. Auch im Rahmen der Lockerungen wird sich der Förderalismus bewähren. So können Maßnahmen bis auf Landkreisebene heruntergebrochen werden.  Daher sei für alle Zeit geboten: „Finger weg von einer Abschaffung des Förderalismus“ (vgl. Art. 20 in Verbindung mit der Ewigkeitsklausel Art. 79)

2.) Die Bedeutung einer funktionierenden Verwaltung (Art. 83-115)
An den verschiedenen Grundgesetzausstellungsorten gibt es im Vorraum oftmals eine individuell gestaltete „typisch deutsch!“ Ausstellung. Hier tragen die Veranstalter alle möglichen Klischees zusammen, die wir selbst, oder andere mit Deutschland verbinden. Diese Exponate sind sehr unterschiedlich- aber das, was an vielen Orten unter „typisch deutsch“ ausgestellt wird, sind Unmengen von Aktenordnern, Endlosformulare und akkurat aufgestellte Schreibtische. Beim Anblick dieser Exponate sagte ein Ausstellungsbesucher einmal: „Die Deutschen können alles, außer einfach!“  Dass es auch anders geht, erleben wir inmitten der Pandemie.

In einer Überbietung von Hilfspaketen bemühen sich Bund und Länder dieser Tage um die Stützung der heimischen Wirtschaft. Erfreulicher
Weise nicht nur des Mittelstandes und der großen systemrelevanten Unternehmen,sondern auch der Kleinstunternehmen und Solo-Selbstständigen.

Vor der Krise waren mir Steuererklärungen ein Grauen. Dem Staat unterstellte ich gerne die Entmündigung des Bürgers, da es ohne fachliche
Hilfe eines Steuerberaters gar nicht mehr möglich scheint, vernünftige Steuererklärungen zu erstellen. Meine Frau kann bestätigen, dass die Tage der Steuererklärung stets einen dunklen Schatten über unser Familienleben legten. Dieses Bürokratiemonster sehe ich zwar heute auch noch kritisch, erlebe aber die Verwaltung des Bundes und der Länder gerade von einer völlig neuen Seite. Auch die Finanzämter bemühen sich um Schadensbegrenzung und kommen dem Steuerzahler mit Stundungen und Steuernachzahlungen sowie dem Wegfall von Strafzahlungen
sehr stark entgegen.

Diese funktionierende Verwaltung in der Krise funktioniert und sie ist ein Segen! Millionen von Menschen überleben gerade durch Kurzarbeitergeld und Krisenzuschüsse. All das wird und wurde i.d.R. zeitnahe bearbeitet und ausgezahlt. Recht schnell und unkompliziert haben auch die Rathäuser auf den weitgehend virtuellen Betrieb umgestellt und bieten dem Bürger das bisherige Leistungsspektrum beinahe uneingeschränkt an.

Für die Zeit nach der Krise wacht in mir eine Sehnsucht auf: Steuererklärung so simpel, dass sie auf einen Bierdeckel passt ( Friedrich Merz
2003), eine Vereinfachung der zigtausend Sonderregeln, zugunsten der Transparenz und Mündigkeit des Bürgers. Folglich würden auch viele Finanzbeamte freigesetzt werden, um sich anderen Aufgaben, wie z.B. der Steuerhinterziehung, zu widmen. Bürokratieabbau kann erfolgen, wenn für jede neue Verordnung, zwei alte wegfallen. Das Grundgesetz gibt den Rahmen vor, in dem so eine sinnvolle und menschennahe
Verwaltung gestaltet werden kann.

3.) Was taugt die „schwarzen Null“? (Art. 109 & 115)
Norbert Walter-Borjans stellte die Schwarze Null und auch die Schuldenbremse auf dem Berliner SPD Parteitag am 6.12.2019 infrage. Sie
seien falsch, wenn sie der Zukunft Deutschlands im Weg stünden, so der Co - Vorsitzende der SPD auf dem Bundesparteitag. Artikel 109 und 115 regeln die Schuldenbremse, welche gemäß Grundgesetz pro Jahr eine Neuverschuldung um 0.35% des Bruttoinlandsproduktes zulässt.

Die schwarze Null steht als solches nicht im Grundgesetz, orientiert sich jedoch an der Idee einer möglichst geringen Neuverschuldung und
steuert darüber hinaus einen ganz ausgeglichenen Haushalt an. Seit 2014 bis hin zur Corona- Krise wurde ein ausgeglichener Haushalt, also die schwarze Null, präsentiert. Laut Herrn Walter-Borjans Antrittsrede im Dezember müsste grundsätzlich mehr Geld in die Gesellschaft investiert werden, damit Deutschland eine Zukunft hat. Das erfordere eine höhere Neuverschuldung. Aus heutiger dürfen wir feststellen: Gut, dass die schwarze Null immerhin 6 Jahre gehalten hat und auch vor 2014 gut gehaushaltet wurde- eben damit Deutschland auch nach der Krise eine Zukunft sieht und auch in diesen Tagen auf umfangreiche Rücklagen zurückgreifen kann.

Natürlich muss sich ein neuer SPD Vorsitzender mit vermeintlichen Geschenken an die Gesellschaft profilieren – ob das zu Lasten unserer
Verfassung erfolgen muss, wage ich zu bezweifeln. An dieser Stelle möchte ich Herrn Walter-Borjans wie allen Politikern raten, nicht gegen die Vorgaben der Verfassung zu agieren, sondern daran mit  zu wirken, diese umzusetzen. Die Schulden, die wir heute machen, schaden morgen unseren Kindern. Da in den letzten Jahren die Forderungen des Grundgesetzes erfüllt wurden, schöpfen wir inmitten der Pandemie aus dem Vollen und stehen weitaus besser da, als die meisten anderen Industrienationen.

4.) Gottesfurcht als Verfassungsfundament (Präambel)
Selbstverständlich ist die Religionsfreiheit (Art.4) nach wie vor gewährleistet und wir dürfen an (fast) alles glauben: An das Spaghetti-Monster,
an den Urknall, die Evolutionstheorie, an den Fußballgott, an die Spaßgesellschaft, an Allah und auch an den jüdisch-christlichen Gott des Alten und Neuen Testamentes. Vor letzterem sahen sich auch vor über 70 Jahren weite Teile des Parlamentarischen Rates in der Verantwortung, als sie das Grundgesetz in die Angeln hoben und sich in der Präambel zu der Verantwortung des deutschen Volkes vor diesem Gott der Geschichte bekannten. In einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft mutet diese Präambel martialisch und überholt an. Sie erfährt aber gerade in Krisenzeiten eine Renaissance.

Die Stimmen des Glaubens sind wieder hörbarer geworden, in einer Zeit, in der das Leben nicht mehr kontrollierbar erscheint. Kanzler, Bundespräsidenten und Minister werden ähnlich wie Richter nach wie vor auf Wunsch mit dem Gottesbezug vereidigt: „So wahr mir Gott helfe“.
Eine Rückbesinnung auf jüdisch-christliche Werte, wie dem der Menschenwürde zeigen, dass der Glaube an einen Gott der Geschichte
essentiell für die höchsten Werte unserer Verfassung ist. Der Staat hat erkannt, dass er sich diese Werte nicht selbst geben kann, daher gibt es die Kooperation mit den Kirchen, Religionsunterricht in den Schulen anzubieten (Artikel 7). Der Publizist Wolfram Weimar sagte einmal, „Werte wachsen auf dem Humusboden der Religion“ und auch der Staat hat erkannt, dass er sich selbst keine Werte geben kann. Kaum ein anderer
Spitzenpolitiker verkörpert diese Rückbesinnung dieser Tage mehr als Markus Söder, der am Ende seiner Regierungserklärung vom 19.3. sagte: „Bleiben Sie gesund! Und für alle, die beten und gläubig sind, so wie ich: Gott schütze unsere Heimat!“

Täte es unserer Präkorona Gesellschaft nicht gut, sich vor einer übergeordneten Instanz zu verantworten, die wir uns nicht gefügig machen
kann und die auf die innersten Beweggründe unseres Herzens schaut? Die Väter und Mütter des Grundgesetzes wussten zu einem großen Teil um diese Verantwortung und eine Konjunktur des Grundgesetzes entdeckt dieses Bewusstsein der Gottesfurcht neu als staatstragendes Fundament.

5.) Umgang mit natürlichen Ressourcen
Laut Artikel 20a schützt der Staat durch einen Generationsvertrag für die nachfolgende Generation die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere. Die „Fridays for Future“ Bewegung hat diese Verantwortung von den Verantwortlichen eingefordert. Der aktuelle Lock-down bietet aber auch die Möglichkeit, unseren Konsum neu zu hinterfragen:

Über viele Jahre boomte die Kreuzfahrtindustrie, Massentourismus und ökologischer Wahnsinn begleiten diesen bislang boomenden Markt. Die Seuchenschiffe der vergangenen Wochen und Monate lassen fragen: Braucht es diese Ausprägungen eines dekadenten Lebensstiles zu Lasten der Umwelt weiterhin? Jetzt wäre der Zeitpunkt, diesem Wahnsinn ein Ende zu bereiten. Die vielen Kreuzfahrtschiffe lassen sich übrigens auch weiterhin nutzen: Als fest verankerte Wohnungen und Einkaufszentren im Hafen.  
Unsere Mobilität hat massiv abgenommen. Wir fahren momentan kaum Auto, was angesichts der niedrigen Spritpreise schon ein bisschen weh tut, aber auch bewusster fragen lässt: Wo muss ich unbedingt hin und welche Fahrten kann ich mir sparen?
Inmitten der Krise ein neuer Rekord: Angesichts der ruhenden Wirtschaft und des windigen Sonnenwetters wurde dieser Tage vermeldet, dass
erstmalig über 50% des Strombedarfs durch regenerative Energien gestellt wurden. Ein gutes Gefühl!
Wir genießen den flugzeugfreien Himmel und hoffen, dass nach der Krise keine Inlandflüge mehr stattfinden und Langstreckenflüge so teuer
werden, dass sie für die meisten Menschen nicht mehr leistbar sind. Soll Fliegen ruhig ein unbezahlbarer Luxus werden! Dann entdecken wir Deutschland als Urlaubsland oder fahren mit unserem Elektroauto, frisch beladen von der heimischen Photovoltaiganlage, oder der Bahn zum Entspannen in die europäischen Nachbarländer.
Weg mit EU- Subventionen, die zu Milch- und Fleischbergen führen! Dafür vernünftige Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse, von denen
die Landwirte gut leben können. Ich wünsche mir nachhaltige Förderung von regionalen Märkten und Hofläden, in denen mit kurzen Transportwegen bzw. direkt beim Erzeuger gekauft werden kann. So werden nicht nur Transportwege reduziert, sondern auch neue Arbeitsplätze geschaffen. Zugleich lässt sich auch noch die Massentierhaltung reduzieren. Monokulturen sollten wir den Kampf ansagen. Absolutes Verbot von
schädlichen Pflanzenschutzmitteln wie Glyphosat. Biologischer, nachhaltiger Anbau muss sich lohnen- daher mehr finanzielle Erträge für Bauern, die weniger Quantität mit mehr Qualität herstellen. Saisonale Verfügbarkeiten von heimischen Obst- und Gemüsesorten. Das würde nicht nur die Lebensgrundlagen unserer Landwirte stützen sondern auch dazu führen, dass wir als tendenziell übergewichtiges Wohlstandsvolk wieder gesünder leben.

6.) Bedeutung der Familie
Zu allen Krisenzeiten der Geschichte erweist sich die kleinste Einheit einer Gesellschaft als Überlebenskeimzelle: Die Familie. Wenn öffentliches Leben nicht, oder nur sehr eingeschränkt möglich ist, wirkt das Leben in den Familien fort. In einer stark individualisierten Gesellschaft ist dies freilich ein Problem: Im Gegensatz zu orientalischen oder südeuropäischen Kulturkreisen ist unsere Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten zunehmend vereinsamt. Mehrere Generationen leben nur noch selten unter einem Dach. Stattdessen verwirklichen sich viele Menschen im Beruf, das Kinderkriegen wird von Frauen oft als Karriereknick empfunden, Erziehungsleistungen werden aus den Familien ausgelagert, in dem eine „Rundumbetreuung“ über Kitas und Ganzheitsschulen angeboten wird. Die Berufswelt erfordert eine wachsende Mobilität und Flexibilität, so dass sich Kinder früh von den Elternhäusern lösen und diese dann oft alleine in zu großen Häusern und Wohnungen leben. Tritt der Pflegefall ein, werden die Eltern in Einrichtungen überführt, die sich bestmöglich um die physischen und psychischen Bedürfnisse kümmern. Bislang wurde dieser Individualismus als Herzstück einer fortschrittlichen Gesellschaft zelebriert - angesichts der Krise zeigt sich jedoch eher, dass es vielmehr die Achillesverse ist. In diesen Tagen trägt die Solidarität Familie, nicht der Egotrip des Individualismus. Zur Abfassungszeit des Grundgesetzes galt noch der Generationsvertrag der Großfamilie und wir müssen auch in unseren eigenen Familienbiographien oft gar nicht soweit zurückgehen, um diese noch finden. Die Großeltern lebten bei Ihren Kindern und Enkeln bis sie starben- und selbst das taten sie oft zuhause im Kreise ihrer Lieben.

Freilich wären großfamiliäre Strukturen bezüglich Infektionsketten zunächst dramatisch, aber zeigt der Wegfall der Großfamilie in unseren Breiten vor allem ein noch viel größeres Problem: Die Vereinsamung und Vereinzelung der Gesellschaft. Daher lohnt es sich, sich an dem im Grundgesetz (Art. 6) verankerten und auf die Weimarer Verfassung basierende Überzeugungen zurück zu gehen, Familien zu stärken und der Vereinsamung entgegenzuwirken. Dazu bedarf es eines Paradigmenwechsels: Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die konservative
Definition der „Ehe“ und „Familie“, die Abwertung der familiären Erziehungsleistung sowie die finanzielle Ausstattung von Familien gehören
hierbei ebenso auf den Prüfstand, wie eine kritische Auseinandersetzung mit den seit vielen Jahren sinkenden Geburtenraten.

Die Familien sind nicht nur wesentliche Leistungsträger der Gesellschaft, sie sind auch der Schlüssel zur Überwindung der aktuellen Pandemie. Im Hinblick auf weitere Krisen in der Zukunft, tun wir gut daran, die im Grundbesetz verankerte besondere Bedeutung und Schutzbedürftigkeit der Familie zu begreifen.

7.) Nationale Souveränität eingebettet in die Idee Europas
Die in der Präambel des Grundgesetzes genannte Willensbekundung Deutschlands „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen…“ stellen sich die Fragen. Was ist Europa? Welche nationalen Identitäten bleiben den jeweiligen Staaten? Verschiedenste Visionäre haben sich an diesen Fragen abgearbeitet.

Nichts eint so sehr, wie gemeinsame Werte. Ursula von der Leyen hat bei Ihrer Bewerbungsrede als neue EU Kommissionspräsidentin am 16.7.2019 vor dem EU-Parlament in Brüssel in einer beeindruckenden Rede diese gemeinsamen Werte beschworen: „Die Wiege unserer
europäischen Union ist die griechische Philosophie und das das römische Recht.“ Leider hat Frau von der Leyen an  die wohl prägendste Kraft Europas übersehen: Das jüdisch - christliche Leitbild der Menschenwürde. Unter diesem Schirm wurde Europa aus den Trümmern des zweiten
Weltkrieges zu dem geformt, was heute Heimat von 500 Millionen Menschen ist.Vielleicht war es der Umstand einer Bewerbungsrede, welcher Frau von der Leyen das vergessen ließ, denn eine Rückbesinnung auf den jüdisch-christlichen Glauben wäre wohl in einem überwiegend säkular geprägten EU-Parlament nicht wirklich gut angekommen. Der jüdisch - christliche Glaube als ältestes Wertefundament Europas bleibt jedoch unbenommen historischer Befund und reiht sich neben der griechischen Philosophie und dem römischen Recht in den europäischen Wertekanon
ein.

Europa kann nur dann bestehen, wenn es neben den gemeinsamen Grundwerten auch nationalstaatliche Identitäten zulässt. Die Reglementierungswut Brüssels hat in weiten Teilen der EU zu einer tiefen Frustration geführt:
Weshalb muss ein Land sich vor der EU rechtfertigen, wenn es eine Maut für den Transitverkehr einführen möchte? Ebenso darf gefragt werden,
weshalb es eine Gurkenkrümmungsverordnung oder Glühbirnenverordnung auf EU Ebene gibt? Zudem ist das Verhältnis der jeweiligen Staatsverfassungen zum EU Recht bis heute nicht eindeutig geklärt. Bricht EU-Recht im Kollisionsfall nationales Verfassungsrecht? Wenn aber die jeweilige Verfassung wie z.B. unser Grundgesetz, nicht mehr das Maß aller Dinge ist und ggf. vom Europarecht ausgehoben werden kann, welche Bedeutung hat es dann noch? Ein bisschen weniger Europaverordnungen und Eingriffe in nationalstaatliche Interessen würde am Ende dazu führen, mehr Europa zu haben. Eine Zusammenarbeit sollte primär wenn nicht sogar ausschließlich auf Bereiche konzentriert werden, die alle Staaten in Europa miteinander verbindet: Z.B. eine gemeinsame Zollpolitik, Verteidigung, Klimaschutz, Energiepolitik und ganz aktuell: Ein gemeinsamer Pandemieplan, der Europa stärker als Solidargemeinschaft sieht, als aktuell der Fall. Der Brexithält der verbleibenden EU andieser Stelle schmerzhaft den Spiegel vor: Wären die Briten bei weniger Brüssel und mehr nationaler Ausgestaltung der EU am Ende nicht ausgetreten?

Nur wenn die jeweiligen Verfassungen (z.B. Grundgesetz) der Mitgliedsstaaten vollumfänglich gewahrt bleiben und sich Europa auf seine
gemeinsamen Werte besinnt, wird dieser Staatenverbund eine Zukunft haben.

8.) Die Wiederbelebung der sozialen Idee (Art.20)
Diese leidvollen Tage wirken wie ein Filter: Auf einmal kristallisieren sich die oftmals unscheinbaren und eher mäßig bezahlten Berufe heraus, ohne die unsere Gesellschaft nicht überleben könnte:
Angefangen bei den Pflegefachkräften im Krankenhaus und in den Altenheimen, den Kassiererinnen, den Müllwerkern bis hin zu den LKW-
Fahrern- sie alle tragen neuerdings das Prädikat: “Systemrelevant”.

Im Rahmen meiner nebenberuflichen Dozententätigkeit am Diakonischen Institut in Heilbronn hege ich reges Interesse an der Frage, was Menschen eigentlich bewegt, Schichtdienst, schwere Arbeit, schlechte Bezahlung und (bisher) wenig soziale Anerkennung in Kauf zu nehmen, um einen Pflegeberuf zu erlernen. Die Antworten der meisten Schüler/innen faszinieren mich, da sie fast alle einen biographischen Bezug aufweisen und einem Bekenntnis zur Menschenwürde gleichkommen: Da ist die Liebe zu den Großeltern, der Wunsch, etwas Bedeutungsvolles zu machen, Menschen zu helfen, für andere da zu sein und daran mitzuwirken, dass das Leben für alle lebenswerter wird.
Diese Berufsgruppe ist zu einem Großteil leuchtendes Vorbilder unserer Gesellschaft, Alltagshelden, die nicht nur in diesen Tagen einen längst
vergessenen Verfassungswert in den Fokus rücken: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“ (Art. 20 Absatz 1).

Applaudieren für heimkehrende Pflegekräfte mag eine schöne Geste sein. Sie verfehlt jedoch ihre Wirkung, wenn diese nach Feierabend einkaufen gehen und kein Klopapier finden, weil das von ihren klatschenden Nachbarn kurz zuvor gehamstert wurde. Es braucht eine nachhaltige, finanzielle Aufwertung der Pflegeberufe, bzw. der sozialen Berufe insgesamt. Woher soll das Geld dafür kommen? Sprudelnde Einnahmequellen gibt es genug, um Pflegepersonal sowie die sozialen Berufe insgesamt besser zu stellen:
Milliardendefizite wie beim Bau der Elbphilharmonie, dem Stuttgarter Bahnhof oder dem legendären Berliner Flughafen könnten dadurch
gespart werden, dass Kostenzusagen fortan verbindlich ermittelt und vertraglich gesichert werden. Was jeder Häuslebauer hinbekommt, sollte der Staat noch viel besser können. Daher müssten die beauftragten und ausführenden Bauunternehmen in die Haftung genommen werden. Für Fehler am öffentlichen Bau ist der Steuerzahler nicht mehr zu belangen.
Warum müssen Fußballspiele der Bundesliga eigentlich von staatlich finanzierten Polizeieinsätzen begleitet werden? Die Vereine haben über viele Jahre gut verdient und sollten die Kosten tragen, die sie selbst verursachen. Schon lange sind auch die astronomischen Einkaufspreise und Gehälter von Fußballstars nicht mehr vermittelbar. Mich befremden die angeblich finanziellen Sorgen von Vereinen, die noch vor wenigen Monaten mit Millionen um sich geworfen haben.
Da wären auch die längst überfälligen Steueranpassungen parasitärer Unternehmen, wie Amazon, Google, etc., die Ihre Einnahmen bitteschön dort versteuern sollten, wo diese erzielt werden. 
Oder nehmen wir eine Auto-Maut für alle, z.B. nach Schweizer Vorbild: Lässt sich gut kontrollieren, beteiligt insbesondere auch die ausländischen Transportrouten und sorgt für Gerechtigkeit bei der Finanzierung des Straßenbaus. 
Zu guter Letzt sollte unbedingt der Bundestag verkleinert werden. Mit seinen mittlerweile über 700 Mitgliedern ist er nach China das zweitgrößte Parlament der Welt. Masse ist nicht immer Klasse, zumal ein Parlament für ein 80 Millionenvolk auch locker mit 300-400 Volksvertretern auskommen würde, ohne dass die repräsentative Demokratie darunter leidet.
All diese längst überfälligen Maßnahmen würden ohne Steuererhöhungen für den Normalbürger in kurzer Zeit viele Milliarden Euro in die Staatskassen spülen, mit denen u.a. eine vernünftige Vergütung der Pflegekräfte (um mindestens 35% über dem aktuellen Gehalt) möglich wäre. In dem Fall würde das gesamte Sozialwesen profitieren und auch ausreichend junge Leute soziale Berufe ergreifen. Eine bessere Vorbereitung für weitere Pandemien kann eine Gesellschaft nicht durchführen.

Nach der Klärung, welche Berufe nunmehr systemrelevant sind, stellt sich die Frage, welche Funktionen und Berufe nicht notwendig, ja vielleicht sogar schädlich sind. Braucht es Hedgefondsmanager und Börsenagierende, die gegen Unternehmen wetten und mit deren Niedergang ein Vermögen machen? Braucht es Anwälte, die aus reiner Geldgier E-Shopbetreiber verklagen, weil ihre AGB´s kleine Fehler haben? Braucht es fette Abfindungen von Topmanagern, die neben einem 100 - fachen des Durchschnittslohnes aus ihrer Position weggelobt werden und am Ende für Ihre Fehlentscheidungen auch den wirtschaftlichen Niedergang des Unternehmens auch noch mit Prämien belohnt und weggelobt werden? Braucht es das absolute marktwirtschaftliche Gebot des beständigen Wachstums? Schon Georg Kropp, der Begründer des Bausparvertrages sah in der Erhaltung bzw. Stagnation einer Volkswirtschaft den rechten Weg. Wenn dies nicht gelingt, greifen Gier und Neid um sich, während sich zugleich die natürlichen Ressourcen erschöpfen. 
Artikel 14 des Grundgesetzes verordnet eine hohe gesellschaftliche Verantwortung, die mit Reichtum einhergeht. Eigentum verpflichtet- das gilt in besonderer Weise für die Wohlhabenen in unserem Land. Während sich immer mehr Eigentum in immer weniger Händen befindet, stellt sich die Frage, ob die Welt nach der Krise nicht durch ausgleichender Gerechtigkeit glänzen kann. Eine Stiftungsverpflichtung oder höhere Besteuerung von Millionären wäre hier ein denkbarer Ansatz, der unserer Verfassung gerecht wird. 
Meiner Meinung nach, sollten auch personelle Veränderungen überdacht werden: Ist ein Gesundheitsminister noch tragbar, der noch im Februar deutschlandweit unterwegs war, um für die Schließung von Krankenhäusern zu werben, die Gesellschaft anfangs mit „Wir sind bestens vorbereitet“ Parolen beschwichtigte, um wenig später zu erkennen, dass es nunmehr an den einfachsten Schutzausrüstungen für die Krankenhäuser fehlt. Zudem schlug er frühzeitige Warnungen in den Wind und reagierte in vielen Bereichen zu spät auf die Pandemie. Über Jahre war Herr Spahn Gesellschafter eine Lobbyfirma im Medizinbereich und zugleich im Gesundheitsausschuss des Bundestages überaus befangen und sorgte u.a. dafür, ein für die pflegerische Ausbildung wichtige Fach „Glaubens- und Lebensfragen“ zu streichen. Der Anblick dieses Gesundheitsministers inmitten eines überfüllten Krankenhausfahrstuhls kann daher durchaus als Bild des politischen Versagens herhalten. Das Amt des Gesundheitsministers ist sicher systemrelevant, das Verhalten von Herrn Spahn hingegen war es in der Krise keineswegs.

Die Geschichte der sozialen Idee ist in Deutschland zutiefst beheimatet: Krankenhäuser, Versicherungssysteme, Rente, Krankenversicherung,
Errungenschaften in Medizin, Technik, Kultur, Kunst, Sozialdiakonischen Einrichtungen verschiedenster Art leben alle von dem Solidaritätsgedanken unserer Gesellschaft: Die Starken versorgen die Alten und Schwachen. Mögen wir dieses Fundament unserer Gesellschaft während und nach der Krise neu begreifen und in unsere Herzen pflanzen indem wir diejenigen achten und belohnen, die unsere Gesellschaft in diesen Tagen am Laufen halten. Und mögen wir den Mut aufbringen, uns von schädlichen Strukturen und Philosophien zu trennen, die unserem Land nachhaltig schaden. 

 
Fazit:
Unser Grundgesetz ist nicht nur das historisch gewachsene Fundament der Nachkriegszeit, auf dem unsere Gesellschaft gründet. Es ist zugleich der Notfallplan während der Krise und das konjunkturelle Korrektiv für die Zeit nach der Krise. Wir tun gut daran, an dem festzuhalten bzw. zu dem zurück zu kehren, was sich über Jahrzehnte bewährt hat. Die Gefahr ist jedoch groß, dass nach überstandener Krise die alten Zustände zurückkehren und wir als Menschheit und auch als deutsche Gesellschaft nichts aus der Pandemie gelernt haben. Änderungen und Korrekturen braucht es demnach jetzt- in dieser Stunde Null formt sich bereits die Zukunft der Menschheit und unseres Landes.

 

Tim Behrensmeier - 16:39:57 @ Grundgesetz im Gespräch